Lectio divina (Fortsetzung)



Ziel dieser Meditierenden war die Imitatio Christi, das heißt: Christus ähnlich zu werden. Man erstrebte auf meditativem Weg, eine möglichst starke bildhafte Vorstellung seines Lebens und vor allem seines Leidens zu gewinnen und strukturierte diesen Weg nach den vier Stadien der Lectio divina, die schon im 12. Jahrhundert durch den Mönch Guigo II. (+ 1193) ausformuliert und systematisiert worden war: Lectio, Meditatio, Oratio und Contemplatio. Guigo hatte dazu auf die schon seit langem in den Klöstern praktizierte Übung der Lectio, das heißt der meditativen Schriftlesung, zurückgegriffen. Bereits vom 9. Jahrhundert an findet man diese Aufteilung, nur in anderen Zusammensetzungen und mitunter anderen Begriffen; die Anfänge gehen noch viel weiter zurück. Die Lectio zum Beispiel konnte auch der Cogitatio zugeordnet sein, im Sinne von „Vergegenwärtigung im Geist“, und mit der Meditatio gleichgesetzt werden. „Die Lesung“, schrieb Guigo II., „sucht die Süße glückseligen Lebens, die Meditation findet sie, das Gebet [Oratio] erfleht sie, die Beschauung [Contemplatio] kostet sie“ (zit. in Ruh, 1990). Noch deutlicher veranschaulichte er den Vorgang durch die Metapher des Essens: „Die Lesung ist wie eine feste Speise im Munde, die Meditation zerkaut sie, das Gebet empfängt den Geschmack, die Beschauung kostet sie“ (zit. ebd.). Insofern handelt es sich bei der Lectio divina um ein organisches Ganzes, dessen Teilphasen ineinander übergehen, was auch begründet, dass sie je nach Autor unterschiedlich gegliedert werden konnten. Natürlich beginnt der Kauvorgang, wenn die Speise in den Mund genommen wir, natürlich stellt sich auch sogleich schon der Geschmack ein und natürlich kostet sie der Essende bereits von diesem Moment an. Dementsprechend vollzog sich bereits das Lesen (Lectio) „in einer sehr langsamen und meditativen Weise“ (Cousins, 1995). Vor allem Texte aus dem Leben Jesu versuchte man sich so vorzustellen, dass dadurch eine größtmögliche Nähe zum ursprünglichen Geschehen entstand. Wiederholendes „Durchkauen“ des Textes und das kontemplative Imaginieren seines Inhalts gehen miteinander einher. Allein das rein wiederholende „Bewegen“ der Worte lässt schon bildhafte Vorstellungen entstehen, während die Visualisierung der in den Texten gegebenen Bilder und Szenen diese mit Leben und Gegenwärtigkeit erfüllt. Meditatio und Contemplatio sind demnach eigentlich nur das auskostende Verweilen im Akt dieser Vergenwärtigung und die Oratio erhält den Charakter der dialogischen Teilhabe am vorgestellten Geschehen, das dahin drängt, den Gegenstand der Betrachtung noch eindringlicher mit allen Sinnen wahrzunehmen und aufzunehmen. Peng-Keller nennt die so verstandene Oratio das durch die Achtsamkeit gekennzeichnete „kontemplative Gebet“; Achtsamkeit und Gebet seien überhaupt eng verwandt (Peng-Keller, 2012). Fürbittendes Gedenken im Vollzug der Lectio divina eröffnet darüber hinaus die achtsam Anteil nehmende spirituelle Verbindung zur Umwelt und motiviert zur eigenen Verantwortungsübernahme.

Die Lectio divina als Weg der Imitatio Christi in der Devotio Moderna sollte den ganzen Alltag durchdringen und bestimmen. Dazu sollten Maßnahmen des beständigen Memorierens und Konzentrierens dienen. Die lebensbejahend dankbare Alltagsdurchdringung des Glaubens war bekanntlich auch ein zentrales Moment der Lehre Martin Luthers, der ebenfalls das Muster der Lectio divina aufnahm, um es aber anders als der Tradition entsprechend zu akzentuieren. Bei ihm wurde die Trias Oratio, Meditatio, Tentatio (Prüfung) daraus. Die Oratio ist für Luther als ständig kultivierte dialogische Beziehung zu Gott das Übergreifende. Im Kontext und unter der Voraussetzung dieser persönlichen Beziehung des Glaubenden zu Gott ist dann die Lectio das betende Aufnehmen des Bibeltextes in meditativer Haltung und damit Element der Meditatio. Luthers skeptische Sicht der Mystik lässt ihn auf die Contemplatio zugunsten der Tentatio im Sinne der Bewährung des aufgenommenen Wortes in der Alltagswirklichkeit verzichten. Für Luther gilt, mit Peng-Kellers Worten: „Das Evangelium erschließt sich, wo jemand es zu leben versucht und der Bedrängnis nicht ausweicht, die ein solches Leben mit sich bringt“ (Peng-Keller, 2010).

Quellenangaben:

Cousins, Ewert, Die menschliche Natur Christi und seine Passion, in: Raitt, Jill (Hg.), Geschichte der christlichen Spiritualität, Bd. 2: Hochmittelalter und Reformation, hg. in Verbindung mit B. McGinn u. J. Meyendorff, mit einem Vorwort v. J. Sudbrack, aus d. Amerik. übers. v. C. Drossel Brown, M. Ottl u. E. Tocha-Ring (Echter: Würzburg, 1995), 383-399

Peng-Keller,Simon, Einführung in die Theologie der Spiritualität (Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt, 2010)

Peng-Keller, Simon, Kontemplation: Einübung in ein achtsames Leben (Kreuz: Freiburg i.B., 2012) Ruh, Kurt, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts (C.H. Beck: München, 1990)

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