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Samstag: Wochenspruch
Das ist kein Gegensatz, sondern eine Ergänzung. Der Gedanke, das jüdische Alte und das
christliche Neue Testament stünden sich dem Inhalt nach geradezu feindlich gegenüber,
ist antisemitisch gefärbt und theologisch falsch, wie auch der Gedanke, das Alte
Testament sei nur ein etwas kümmerlicher und ziemlich dunkler Beginn, dessen einziger
Zweck in der prophetischen Anbahnung des Neuen liege. Mit solchen Annahmen wird
auch verbunden, dass „Gesetz“ im alttestamentlichen Verständnis „Gesetzlichkeit“
meint. Aber Gesetz, Gnade und Wahrheit bilden miteinander die notwendige Einheit
des jüdischen und des christlichen Glaubens. Einziger Unterschied ist, dass viele
Juden Gnade und Wahrheit nicht im Neuen Testament und in der Person Jesus
Christus suchen.
Auch das lässt sich aber nicht einfach zu Gunsten des Christentums auflösen.
Im Judentum wird die erste Tafel des mosaischen Grundgesetzes ernster genommen
als im Christentum. „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen
Götter neben mir haben“ wird dort mit dem darauf folgenden Verbot, sich von
Gott ein Bild zu machen, als Einheit gesehen. Wir dürfen nie vergessen,
dass Jesus ganz und gar Jude war und nicht mit der Intention auftrat, das
Christentum als eine neue Religion zu gründen. Seine Mission war die
Erfüllung der prophetischen Verheißungen des Judentums. Und zu denen
gehörte, dass alle Welt sich dem einen Gott der Juden zukehren würde.
Insofern ist das Christentum aus der jesuanischen Perspektive nichts
anderes als die Vollendung des Judentums - durchaus im Sinne und im
Dienst des Judentums.
Überall, wo im Judentum also Gnade und Wahrheit zu finden ist, dürfen wir
uns als Christen zuhause wissen. Dem christlichen Bekenntnis nach wird
alle Gnade und Wahrheit durch Jesus Christus, das Judentum hingegen weist
an dieser Stelle schweigend auf den Unaussprechlichen hin. Das steht nicht
im Gegensatz, weil ja auch nach christlichem Verständnis die göttliche
Gnade und Wahrheit nur in der Verhüllung menschlicher Gestalt zu uns
kommt. Darum hat sich Jesus selbst auch nicht den Gottessohn, sondern
den Menschensohn genannt und es immer dort, wo es um die Frage seiner
göttlichen Herkunft ging, bei Andeutungen belassen.
Die Zuordnung von Gesetz, Gnade und Wahrheit bestimmt das Verhältnis unserer
ethischen Eigenverantwortung zur vollendenden Kraft des Heiligen Geistes.
Erstere ist die notwendige Wegbereitung für Letztere. Dabei geht es nicht
um die viel gescholtene „Werkgerechtigkeit“, sondern um die Glaubwürdigkeit
der jüdisch-christlichen Religion. Nicht von ungefähr hat gerade Jakobus,
leiblicher Bruder Jesu, Leiter der urchristlichen Gemeinde und vorbildlich
praktizierender Jude, in seinem Brief die Zusammengehörigkeit der beiden
Aspekte so stark wie niemand sonst im Neuen Testament betont. Die Bedeutung
der Eigenverantwortlichkeit im Verhältnis zum unsichtbaren, ungreifbaren
und auch sehr oft unbegreifbaren Gott haben wir als Christen in Ehrfurcht
von den Juden zu lernen. Christlich gesprochen meint das den Glauben,
der nicht zweifelt an dem, was man nicht sieht.
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