22. Sonntag nach Trinitatis
Leitmotiv: Schuld und Vergebung
Wochenspruch: „Bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.“
Psalm 130,4



Dienstag: Matthäus 18,15-20

Dieser Text wird in der Regel falsch gelesen, darum wird er auch falsch verstanden und missbräuchlich angewendet. Zwei kleine Wörter machen den Unterschied: „an dir“. Interessant ist, dass diese beiden Wörter nicht in allen überlieferten Handschriften, die dem Bibeltext zugrunde liegen, enthalten sind. Dem Auslegungsprinzip für solche Fälle zufolge, wonach die schwierigere Variante für die ursprünglichere zu halten ist, kann man davon ausgehen, dass „an dir“ im Original stand. In den Handschriften finden sich immer wieder solche „Verbesserungen“.

Wir können also folgern, dass der Text schon sehr früh falsch gelesen wurde. Das „an dir“ störte. Wenn wir es aber ernst nehmen, können wir aus dieser Aussage Jesu kein allgemeines Gesetz der „Gemeindezucht“ machen. „Rein sachlich“ festzustellen, dass jemand gesündigt hat, und ihm darum den Prozess zu machen, steht uns nicht zu, es ist vielmehr kennzeichnend für den Pharisäismus. Dieses Wachen über die Sünden anderer hat im Lauf der Kirchengeschichte die schwersten Schäden angerichtet. Alle Ketzerverfolgungen, Hexenverbrennungen und Kreuzzüge sind aus dieser Anmaßung entstanden.

Durch das „an dir“ erhält diese Weisung Jesu aber einen ganz anderen Charakter. Es geht, wie so oft im Neuen Testament, um die Frage der konstruktiven Kommunikation. Konstruktiv bleiben können wir dort, wo andere uns Unrecht tun, wenn wir selbstbewusst damit umgehen. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass ein christlicher Angestellter seinem christlichen Chef mutig widerspricht und widersteht, wenn der unter dem Deckmantel der Brüderlichkeit auf unfaire Weise Macht über ihn ausübt. An diesem Beispiel sehen wir, dass die Wörtchen „an dir“ der Auslegung des Textes wirklich eine ganz andere Richtung geben: Aus dem autoritären „Überwacht euch gegenseitig!“ wird das autonome „Leistet mutig und selbstbewusst Widerstand, wo euch Unrecht geschieht!“



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