Sexagesimä
Leitmotiv: Was Gottes Wort bewirkt
Wochenspruch: „Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht.“ Hebräer 3,15



Freitag: Apostelgeschichte 16,9-15
Exegetische Materialien

V.9.10

1.) Die Tatsache, dass sie sofort nach Mazedonien aufbrachen und dass sie gewiss waren, Gott habe sie dorthin berufen, lässt für mich keinen anderen Schluss zu, als dass sie bereits ernsthaft darum gerungen hatten, gebetet und nachgedacht, wie die Reise weitergehen sollte. Paulus pflegte nämlich nachzudenken und zu planen. Das ließ sie jetzt also die letzte Klarheit gewinnen. Subjektive Eindrücke, Visionen im engeren und weiteren Sinn, sollten nicht isoliert als Wegweisung verstanden werden. Sie können nur ein Mosaikteil sein. Sonst wird die Entscheidung unnüchtern-einseitig. Allerdings kann, wie hier, so ein Eindruck auch einmal der entscheidende Mosaikstein sein. Aber es kann auch ganz anders gehen, und es ist nicht unbedingt nötig, dass man für alles Wichtige, das zu entscheiden ist, einen unmittelbaren Hinweis vom Himmel bekommt.

Für wesentlicher halte ich es, dass die Entscheidung von allen, die es unmittelbar angeht, ganz mitgetragen wird. In diesem Fall: Paulus hatte zwar die Vision, aber den Eindruck, das jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, nach Mazedonien überzusetzen, hatte das ganze Team.

V.11-13

2.) Aus der Gewissheit folgte Zielstrebigkeit: Sie kamen im mazedonischen Neapolis an, hielten sich aber dort nicht lang auf. Sie planten großzügig und reisten deshalb gleich ins Zentrum der Gegend, nach Philippi. Sie nahmen den Impuls der Vision auf, aber nun überlegten sie wieder ganz sachlich, wie sie ihre Aufgabe so effektiv wie möglich ausführen konnten. Das wirkt selbstbewusst. Sie waren sich ihrer Sache eben gewiss. Sie zögerten nicht. Sie gingen in die Offensive. Sie erwarteten etwas. „Lasse niemand den Glauben fahren, dass Gott etwas Großes durch ihn tun will“, sagte Luther einmal. Durch ihn - mit ihm. Dass er teil hat an einem großen Auftrag. Dass Gott große Aufgaben für seine Gemeinde hat, von denen er erwartet, dass sie erfüllt werden, und zu denen er auch das Gelingen geben will. Bei diesem Großen soll nicht der Einzelne groß herauskommen. Aber er soll ganz dabei sein. Er soll sehr wichtig sein dafür. Paulus und sein Team standen nicht herum, ohne recht zu wissen, wo sie für Gottes Reich Hand anlegen könnten. Doch, sie wussten es. Sie hatten ihren Platz gefunden. Sie hatten ziemlich klare Ziele. Und nun war es einfach eine Frage vernünftigen Nachdenkens und mutigen Probierens, welche Methoden dafür am besten seien.

Ich fände es billig, jetzt ein zynisches Klagelied anzustimmen, so etwa: „So ist es eben in der Kirche: Wir wissen zwar nicht, was wir wollen, aber dies mit ganzem Einsatz.“ Es ist eher traurig, wenn so viel fleißig gearbeitet wird und doch die Perspektive fehlt. Irgendwann resigniert man dann vielleicht.

Aber lasse niemand den Glauben fahren, dass Gott etwas Großes durch ihn tun will. Es gibt Durststrecken und Wartezeiten. Paulus lebte nach seiner Berufung zum Apostel mehr als zehn Jahre anscheinend zurückgezogen in seiner Heimatstadt Tarsus. Es scheint sich nichts nach außen hin Bedeutsames in dieser Zeit bei ihm ereignet zu haben. Zeit ist bei Gott kein Problem. Es muss nicht immer alles sichtbar machtvoll vorwärts gehen in Gottes Reich. Vieles lässt Gott langsam wachsen. Irgendwann blüht es auf. Irgendwann trägt es Früchte. Aber will ich es glauben? Glauben, dass er auch mich wirklich brauchen will? Wir dürfen und sollen es glauben. Unser persönlicher Auftrag in Gottes Reich wird nicht von unserer Qualität bestimmt, sondern von seiner Barmherzigkeit.

3.) Das Paulus-Team weiß um den konkreten Auftrag. Es überlegt sich nüchtern und sachlich die beste Methode. Und dennoch bleibt es zurückhaltend und geduldig. Die beste Methode ist nicht die geschickteste Technik der Bekehrung möglichst vieler Ungläubiger zum christlichen Glauben. Menschen wirklich bekehren kann allein Gott. Alles andere ist Seelen-Vergewaltigung, sei es auch noch so gut gemeint und sei es auch noch so gnädig von Gott zu seinen Zielen genutzt. Diese Missionare wissen offenbar: Vor allem kommt es darauf an, am rechten Platz zu sein. Alles andere hat Zeit. Gott wird es fügen. Ein „Evangelisationsfeldzug“ in Philippi war das gar nicht. Sie waren einfach da - und warteten ab, was Gott tun würde, und gingen, ganz wie gewohnt, am Sabbat zum Gottesdienst. Sie erwarteten aber, dass Gott handeln würde. Und sie suchten den Kontakt mit den Menschen dort und kamen mit ihnen ins Gespräch. Sie waren offen für Begegnungen und freuten sich, wenn sie etwas von ihrer größten Freude, dem Evangelium, mitteilen konnten. Die Synagoge oder, wie hier in Philippi, wo es keine Synagoge gab, der jüdische Gottesdienst-Platz, war ein Ort, wo dies wahrscheinlich verhältnismäßig leicht fiel. Dass Rabbi Paulus ein erbauliches Wort sagen sollte, wurde vielleicht sogar erwartet. So redete er vom Evangelium - wovon sonst an diesem Ort und in diesem Zusammenhang? Sie suchten gar nicht die evangelistischen Mutproben. Sie meinten nicht, erst dann richtige Missionare zu sein, wenn sie sich in die Höhle des Löwen stürzten, in die Götzentempel und die Spelunken hartgesottener römischer Veteranen, von denen es sehr viele in Philippi gab. Sie machten es sich nicht unnötig schwer. Hier, am Versammlungsort der Juden, schien es am angebrachtesten zu sein, vom Evangelium zu reden.

In diesem Fall bestätigte es sich. So machten sie es regelmäßig, wenn sie in einen neuen Ort kamen. Manchmal stießen sie aber auch gerade dort auf härteste Ablehnung. Dann verbohrten sie sich nicht in die Auseinandersetzung, sondern wandten sich anderen Menschen zu. Mir scheint, dass diese ersten Missionare ganz gut darauf bedacht waren, mit ihren Kräften hauszuhalten. Sie suchten nicht das Martyrium. Sie hatten keine Lust daran, sich in Auseinandersetzungen aufzureiben. Sie bewahrten einen inneren Abstand, aus dem heraus sie sich fragten: Was ist jetzt eigentlich sinnvoll? Und haben wir die Kraft dazu? Ist das ökonomisch, was wir da machen, oder zehren wir Kräfte auf, die anders besser zum Einsatz kämen? Wird uns die Arbeit verschlingen oder werden wir wirklich offen bleiben für Menschen, für neue Erfahrungen und Erkenntnisse? Wie können wir uns die Stille und das ruhige Durchatmen bewahren?

V.14.15

4.) Das Paulus-Team nahm unauffällig und auf gewohnte Weise seinen Auftrag in Philippi wahr. Der Eingang des Evangeliums in Philippi war allerdings ungewöhnlich. Gott schenkte ihn. Nein, dies war keine Verwirklichung einer missionarischen Methode. Ich kann mir sogar vorstellen, daß es diesen Männern ein bisschen unangenehm war, wie Gott das machte. Wieder einmal sollten, nach Gottes Willen, Frauen eine Schlüsselrolle bei der Ausbreitung des Evangeliums spielen. Wie bei Maria, wie nach der Auferstehung: Frauen mussten die ersten Zeugen sein. Und jetzt hier, an dieser Schnittstelle der Weltmission, als das Evangelium nach Europa kommt. Wen erreicht es zuerst? Eine Frau. Eine Nicht-Jüdin noch dazu. Und, wie es scheint, auch noch eine ziemlich emanzipierte: Lydia, die Purpurhändlerin aus dem kleinasiatischen Thyatira, die selbständige Geschäftsfrau mit internationalen Beziehungen, mit zweitem Wohnsitz im mazedonischen Philippi, gerade die.

Die Apostel hatten gelernt, für Gottes Gedanken offen zu sein, auch für die ganz ungewohnten. Deshalb ließen sie sich auf Lydia ein. Sie taten gut daran.

5.) Ein vorbereiteter Mensch: Lydia. Sie ist „gottesfürchtig“. In diesem Zusammenhang heißt das: Ganz offen für Gott. Wie ein reife Frucht. Es ist wirklich Zeit, dass das Evangelium zu ihr kommt, genau wie Kornelius in Apg 10. Es scheint gar nicht mühevoll, sie zu überzeugen. Sie ist es ja schon fast. Wirklich, Gott macht das. Lydia, die Wartende. Gott schickt uns zu den Wartenden.

6.) Lydia, die Schwester. Das nötigt die Apostel nun, sich noch mehr auf sie einzulassen. Das ist vielleicht gar nicht so einfach für sie. Es gilt nun, Vorurteile hinter sich lassen und die Bruderschaft mit der Schwester konkret werden lassen: Wir gehören jetzt zusammen - und jetzt muss sich das auch in der Praxis zeigen. „Ihr anerkennt doch, dass ich eure Schwester bin?“ Fast ein bisschen keck klingt das, herausfordernd. Aber so war sie vielleicht auch, die Geschäftsfrau. Sie wusste wohl aufzutreten - da war nicht unbedingt einfach für einen jüdischen Mann.

Und so ging es dann weiter mit der Ausbreitung des Evangeliums:

a) Christen wurde von Gott ein Ziel gegeben. Aus dem allgemeinen Ziel Gottes, dass der Welt das Evanelium gebracht werden soll, wurden durch gemeinsames Beten, Überlegen, Wagen von Schritten und Empfangen von zeichenhaften Hinweisen durch Gottes Geist konkrete Ziele, auf die sie einmütig zusteuerten.

b) Sie fragten nun nach der besten Methode, also dem besten Weg zum Ziel. Die Methoden waren nicht Techniken zur Seelengewinnung, sondern es ging um die Frage, an welchem Ort und in welcher Art sie am besten unter den Menschen sein sollten, die Gottes Geist durch sie erreichen und gewinnen wollte. Würden sie diesen Platz einnehmen, dann würde Gott durch sie handeln. Die Gleichung „je extremer, desto verheißungsvoller“ scheinen sie nicht aufgestellt zu haben. Wenn sie ins Martyrium kamen, dann nicht, weil sie es suchten, sondern weil es unvermeidlich war.

c) Sie waren offen. Das heißt: Sie wussten nicht im voraus, wie Gott letztendlich handeln würde. Sie trauten ihm auch zu, dass er dem Evangelium bei Menschen Eingang verschaffen würde, die sie selbst zuletzt dafür ausgesucht hätten. Und sie ließen sich, wahrscheinlich trotz gewisser emotionaler Widerstände, gern von Gott dazu gebrauchen.

d) Sie trafen auf vorbereitete Menschen. Jesus sagte seinen Jüngern einmal, sie sollten die Augen aufmachen, das Feld sei weiß zur Ernte. Anscheinend gibt es viele vorbereitete Menschen. Für sie ist der Zeitpunkt, den Glauben an Jesus anzunehmen, einfach reif. Für den Missionar gibt es da gar nicht mehr viel zu tun. Er bekehrt die Leute nicht. Er hilft ihnen nur ein wenig weiter.

e) Dieser Glaube, den Gott selbst schafft, nimmt nun aber auch in die Pflicht. Gott nimmt diesen anderen, vielleicht so ganz anderen Menschen an. Darum bleibt auch nuns nichts anderes übrig. Annahme bedeutet aber wirkliche Gemeinschaft. Annahme heißt, dem anderen nicht das Eigene aufzudrücken, ihm nicht gönnerhaft zu begegnen, sondern ihn sogar, wie Paulus das später den Christen in Philippi schreiben wird, höher zu achten als sich selbst. Gottes Mission erschöpft sich nicht in der Gewinnung neuer Christen. Sie mündet in glaubwürdiges christliches Leben in Gemeinschaft. Und in dieser Gemeinschaft werden dann wieder neue Ziele für das Evangelium gefunden und einmütig angegangen. So zieht die frohe Botschaft von Jesus immer weitere Kreise.

Text: H.A. Willberg 1996



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