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Inhaltliche Zusammenfassung
Indem Jesus das Augenmerk auf die „geringsten Brüder“ richtet und sich mit ihnen
identifiziert, erhebt er die Achtung zum obersten Prinzip des christlichen Miteinanders
(Wochenspruch Mt 25,40).
Die Geschichte vom Barmherzigen Samariter (Evangelium Lk 10,25-37) ist ein Urbild
der Selbstverleugnung. Hier wird deutlich, was darunter zu verstehen ist: Die
Entscheidung für das Bedürfnis des andern dort, wo das eigene Bedürfnis nicht
mit jenem vereinbar ist. Das heißt in solchen Situationen: Entweder bekommt der
andere, was er braucht, oder ich bekomme, was ich brauche - beides zugleich
lässt sich nicht verwirklichen. Selbstverleugnung ist also der situationsbezogene
Entschluss, auf das zu verzichten, was ich selbst brauche, um dem andern das zu
geben, was er braucht. Die Geschichte vom Barmherzigen Samariter zeigt auch,
dass dies, im Unterschied zu Verhaltensweisen wie dem Helfersyndrom, nur dort
gefragt ist, wo der andere sich selbst das nicht geben kann, was er braucht.
Da Jesus aber das Prinzip der Selbstverleugnung sehr betont, scheint er
davon auszugehen, dass es solche Samariter-Herausforderungen häufig gibt.
Die Freiheit zu dieser Barmherzigkeit ist darin begründet, dass Gott sie uns gibt. Es
ist keine kalte und einsame Freiheit, sondern es ist die Freiheit seiner wahrhaftigen,
ungeteilten Liebe zu uns, die alles Misstrauen und alle Furcht überwindet (1Joh 4,7-12).
Die Freiheit in der Liebe hat Priorität für die Wahl unserer Beziehungen. Familiensysteme
verlieren in dem Maß ihre Verbindlichkeit, in dem sie Liebe und Barmherzigkeit verachten
und die Freiheit durch Diktate ersetzen (Mk 3,31-35). Heilen können Systeme, die daran
erkrankt sind, indem sie sich nach dem Prinzip des Wochenspruchs neu an der Erfüllung
der Bedürfnisse der „Geringsten“ darin ausrichten. Voraussetzung dafür ist, dass es
in solchen Systemen Menschen mit der Haltung des Samariters gibt.
Kain ist die Symbolgestalt des Menschen, der sich dem Weg zum Frieden verschließt (Gen 4,1-16).
Kain sieht die Verschlossenheit als sein gutes Recht an, weil er Gottes Verhalten entschieden
negativ interpretiert. Weil Kain sich selbst in der Opferrolle festsetzt, wird er zum Täter
des Bösen. Auf diese Weise breitet sich das Böse unter den Menschen aus. Gott rettet die
Menschheit aus dem Strudel, indem er selbst in sie hineinkommt und den Gegenweg der Liebe
beschreitet. In der Kainswelt wird Gott dadurch selbst zum Opfer, wie auch der Mensch,
der ihm folgt. Das ist der Preis der Nachfolge Christi. Aber das ist kein sinnloses Opfer,
sondern die Liebe kommt darin zum Ziel.
Der Gegenweg zum Kainsweg befreit zur Großzügigkeit. Arme Menschen sind auf die Großzügigkeit
ihrer reichen Mitmenschen angewiesen, aber auch sie selbst sind vor die Entscheidung gestellt,
den Kainsweg oder den Christusweg zu wählen. Die Großzügigkeit des erbarmenden Helfens der
Liebe befreit und ermutigt zur Eigenständigkeit, statt Demütigung und Abhängigkeit des
Empfängers vom Geber zu bewirken (Mt 6,1-4).
Die Struktur der Kirche richtet sich, wenn sie gesund ist, an denen aus, die am bedürftigsten
sind. Von dort her ordnet sich der ganze Gemeindeorganismus. Gesund und lebendig bleibt die
Kirche, wenn sie diese Ausrichtung beständig den tatsächlichen Erfordernissen anpasst,
statt in Ordnungen zu erstarren, die vielleicht früher einmal angemessen waren, nun aber
ihren Hauptzweck darin haben, Macht und Pfründe zu sichern. Das gilt für beides: Kirchenrecht
und Theologie (Apg 6,1-7).
Vorschläge zur Vertiefung
- Was hat Ihren eigenen Glauben an die Barmherzigkeit Gottes erschüttert?
Wie gehen Sie damit um?
- Worin sehen Sie für sich persönlich Sinn und Grenze der Nächstenliebe?
- Was bedeutet für Sie persönlich Helfen von unten herauf statt von oben herab?
- Was bedeutet es für Ihr Verständnis von Seelsorge?
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